Radikalisierungsprävention – Wie verhalten sich Lehrkräfte richtig?

 Stellen wir uns vor: Eine Schülerin kommt mit Kopftuch an die Schule. Die Lehrerin ist überrascht, die meisten Mitschüler sind es auch. Wie verhält sich die Lehrerin in diesem Moment richtig?
Auf die meisten Situationen im pädagogischen Alltag gibt es nicht die eine richtige Antwort. Die angemessene Reaktion ist von vielen Faktoren abhängig, beispielsweise der Beziehung zwischen Lehrkraft und Schülerin, ihrem sonstigen Verhalten und ihren Äußerungen im Schulkontext. Auch wie alt die Schülerin ist, spielt eine Rolle: Ab 14 Jahren ist man in Deutschland religionsmündig, und auch im Islam gilt das Kopftuch nach den meisten Auslegungen erst ab der Pubertät.

Grundsätzlich würde ich aber raten, erst mal nichts zu sagen und später in Ruhe zu überlegen: Wie reagiere ich bei anderen Schülerinnen auf äußerliche Veränderungen, zum Beispiel auf bunt gefärbte Haare oder ein Gothic Outfit? Welche Bilder tauchen in meinem Kopf auf, welche Emotionen löst das bei mir aus? Wir dürfen nie vergessen: Es sind Jugendliche, die gerade in einer Phase der Identitätsfindung stecken – und da spielen Äußerlichkeiten und Ausprobieren eine große Rolle!

 

Die Lehrerin sollte also so tun, als wäre das Kopftuch nicht Besonderes?

Sie sollte die Schülerin auf keinen Fall vor der Klasse auf das Kopftuch ansprechen. Kaum ein Jugendlicher mag es, wenn Erwachsene das Äußere kommentieren! Falls die Lehrerin es aber wichtig findet, das Gespräch zu suchen, kann sie die Schülerin später alleine ansprechen.

Aber das hat nur Sinn, wenn die Lehrerin wirklich interessiert ist an den Gründen, aus denen die Schülerin ein Kopftuch trägt. Wenn die Lehrerin nur problematisiert, wird die Schülerin in die Defensive gedrängt wird und sie erlebt – womöglich zum wiederholten Mal – dass andere ihr mit Skepsis und Unterstellungen begegnen. Das hinterlässt Spuren, denn es ist das Gegenteil von Wertschätzung des Mädchens als Person.

 

Gleichzeitig sind Lehrkräfte angehalten, genau hinzuschauen und hinzuhören. Bei welchen Verhaltensweisen oder Äußerungen ist denn aus Ihrer Sicht eine Reaktion geboten – und wann sollten Lehrkräfte sich zurücknehmen?

Die Unsicherheit bei vielen Lehrkräften ist verständlich – deshalb sind Fortbildungen, Beratung und der kollegiale Austausch ja so wichtig! Der Standpunkt von ZEOK ist, dass Schulen die unterschiedlichen Zugehörigkeiten von Schülern anerkennen und wertschätzen sollten – und dazu gehört auch die religiöse Zugehörigkeit mit ihren sichtbaren Zeichen wie Kopfbedeckungen oder Speisevorschriften.

Gleichzeitig gibt es auch Grenzen für die Religionsfreiheit: Wenn sich ein Schüler demokratiefeindlich oder menschenverachtend äußert, dürfen und müssen Lehrer klarmachen, dass sie solche Positionen nicht dulden.

 

Um das mal zuzuspitzen: Wenn ein Schüler einen langen Bart und Gewand trägt, weil er mit einem Salafisten sympathisiert, lass ich ihn machen. Aber sobald er sich abwertend über seine Mitschülerinnen äußert, muss ich mich einmischen?

Ich würde sagen: Sie müssen das Gespräch suchen und Fragen stellen: Warum sagst du so etwas? Wie kommst du da drauf? Wie gesagt: Schüler werden oft in einem Alter auffällig, in dem ihr Leben im Umbruch ist, sie sich von ihren Eltern und anderen Erwachsenen abgrenzen wollen oder einfach Lust an der Provokation haben.

Solche Gespräche funktionieren natürlich besser, wenn Schüler sich im Schulalltag ohnehin immer wieder mit demokratischen Grundrechten und -freiheiten auseinandersetzen und nicht erst, wenn Konflikte auftauchen.

Dennoch: Es gibt auch Jugendliche, die ihre extremen Auffassungen vehement verteidigen oder sich auf die Position „Das ist halt meine Wahrheit!“ zurückziehen. Dann sollten LehrerInnen sich an die Schulleitung und ihr Team wenden und den Kontakt zu einer Beratungsstelle suchen.

 

Nun haben wir viel über auffällige Jugendliche gesprochen, schauen wir auf jetzt mal auf die Lehrkräfte. Wo begegnet Ihnen bei den ZEOK-Fortbildungen an Schulen denn Islam- und Muslimfeindlichkeit?
Die gibt es auf verschiedenen Ebenen. Das fängt bei Schulbüchern an, in denen das Thema Muslime oder Islam gerne mit einem Kamel unter Palmen illustriert wird – als wäre der Islam nur außerhalb Deutschlands zu finden.  Oder es steht ein Info-Kasten zum Thema „Integrationskonflikte“ neben dem Text zum Islam. Ist das wirklich die erste Assoziation, die Schüler haben sollten? Wir würden uns wünschen, dass Lehrkräfte solche kritischen Punkte mit den SchülerInnen reflektieren oder andere Lehrmaterialien einsetzen.

Manchmal diskriminieren auch die Strukturen an einer Schule die muslimischen Kinder und ihre Familien – zum Beispiel, wenn das einzige Schulfest im Jahr im Ramadan geplant wird oder auf dem Grill nur Würstchen aus Schweinfleisch liegen.

 

Die Satire-Sendung „Datteltäter“ im Internet-Kanal „Funk“ von ARD und ZDF bringt alle möglichen Vorurteile gegen Muslime in Deutschland auf den Tisch. Bei den Sprüchen des Lehrers im Video „Wenn Rassismus ehrlich wäre: Schule“ bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Haben Sie so etwas auch schon erlebt?

In der Häufung natürlich nicht, aber einzelne Aussprüche und Szenen schon. Ganz typisch ist zum Beispiel, dass als muslimisch wahrgenommene Schüler ein Expertentum zugeschrieben wird. Da steht der Islam auf dem Stundenplan und der Lehrer sagt: „Da kann uns Ayşe doch bestimmt etwas dazu sagen“, obwohl Ayşe vielleicht gar nicht gläubig ist. Oder Mohammed bekommt in Erdkunde das Referat über Syrien aufgedrückt, obwohl er sich lieber mit einem anderen Land auseinandergesetzt hätte.

Die Lehrkräfte meinen das womöglich gar nicht böse, aber so wird ein Anderssein oder Fremdsein unterstellt und nicht der oder die individuelle Schüler*in gesehen. Das passiert auch leicht durch die Sprache, wenn wir beispielsweise unterscheiden zwischen „wir“ und „die Muslime“. Hier müssen wir präzise sein und uns immer bewusst machen: Wen schließe ich im Wir ein – und wen schließe ich aus?

 

Nicht selten grenzen Schüler muslimischen Glaubens oder nicht-deutscher Herkunft sich aber selbst ab von „den Deutschen“. Oder, auch das berichten Lehrer, sie kontern Kritik an ihren Leistungen oder an ihrem Verhalten mit Sätzen wie „Sie sind ja nur gegen uns, weil wir anders sind!“ oder „Das ist rassistisch!“ Wie sollen Lehrkräfte damit umgehen?
Ich kann mir vorstellen, dass viele Lehrkräfte da genervt sind oder sich zu Unrecht angegriffen fühlen. Aber sie sollten solche Aussagen nicht herunterspielen oder abwehren, sondern sehr ernst nehmen. Denn dahinter stecken Erfahrungen von Diskriminierung und Rassismus, die die Schüler schon gemacht haben – ob in- oder außerhalb der Schule – und die sich vielleicht gerade wiederholen. Wichtig ist, in der Schule einen Raum für Rassismus-Erfahrungen zu schaffen und eine Anlaufstelle für Betroffene. Wenn ein offenes vertrauensvolles Gespräch über Rassismus-Erfahrung möglich ist, dann kann auch im Einzelfall benannt und verständlich gemacht werden, warum bspw. eine schlechte Note womöglich nichts mit der Herkunft, der Religion oder der Hautfarbe eines Schülers zu tun hat

 

Und hier gilt wie bei dem Beispiel Kopftuch: nicht vor der versammelten Klasse in die Diskussion einsteigen, sondern in Ruhe ein Gespräch unter vier Augen führen?

Am besten wäre, wenn es in der Schule Raum für das Thema Ausgrenzung und Diskriminierung gäbe. Wenn darüber also offen gesprochen wird und wenn die SchülerInnen wissen: Ich werde ernst genommen mit meiner Sicht auf die Dinge und meinen Gefühlen. Dann könnten sich beispielsweise Lehrer und Schüler zum Gespräch verabreden und noch den Vertrauenslehrer dazu holen.

 

Mein Gegenüber wahrzunehmen und wertzuschätzen, statt abzugrenzen und abzuwerten: Das ist also der Kern der Radikalisierungsprävention?

Ja, sich mit der eigenen Identität und Biografie auseinandersetzen und für diese Wertschätzung zu erfahren, begreifen wir als einen wesentlichen Mosaikstein von Radikalisierungsprävention. Aber diese Art, miteinander umzugehen, ist nicht nur Mittel zum Zweck! Kinder und Jugendliche haben einfach das Recht, bestimmte Ausgrenzungserfahrungen nicht machen zu müssen.

 

… wie sie es zum Beispiel nach den Attentaten von Hanau erlebt haben, wo es keine Schweigeminute an den Schulen gab, anders als ein paar Monate später für den Lehrer Samuel Paty?

Richtig. Ich glaube, hierzulande wurde nicht wirklich realisiert, wie sehr das Attentat von Hanau die Menschen mit Migrationsgeschichte erschüttert hat, welche Angst und Trauer bei ihnen ausgelöst wurden. Das gilt auch für SchülerInnen und auch für Menschen, die nicht in Hanau leben! Die Gedenkminute für Samuel Paty hat dann bei einigen muslimischen Schülern Irritation bis Wut ausgelöst, weil bei ihnen das Gefühl entstanden ist: Wir sind weniger wert, dieses Attentat wird wichtiger genommen!

 

Was wäre aus Ihrer Sicht der richtige Umgang der Schulen mit den Attentaten von Hanau und Paris gewesen?

Wir plädieren dafür, dass Schulen bei solchen einschneidenden politischen Ereignissen den SchülerInnen immer die Möglichkeit geben, Gedanken und Gefühle zu äußern und Fragen zu stellen. Eine Gedenkminute kann auch eine passende Reaktion sein. Aber: Sie sollte nicht für sich stehen. Lehrer und Schüler sollten besprechen, was der Anlass für die Gedenkminute ist, wie die Schüler darüber denken – und sie sollten die Freiheit haben, sich nicht anschließen zu müssen.

 

Und das übernimmt dann der Lehrer, der die Klasse zufällig in der ersten Stunde hat – oder müssen da die PoWi-Lehrer ran?

Es sollte jedenfalls nicht dem Zufall überlassen bleiben, sondern das Kollegium sollte ein Vorgehen abstimmen. Davon abgesehen: Die Frage „Wie geht es Euch?“ sollte jeder Lehrer stellen können.

 

Empathie ist das eine, ein Bewusstsein für die eigenen Vorurteile und Wissen über Kultur und Religion das andere. Was bietet ZEOK da für Lehrkräfte an?

Unsere Fortbildungen drehen sich um Willkommenskultur und Vielfalt, vorurteils-bewusste Religionsbildung und Muslimfeindlichkeit. Und obwohl wir in Leipzig sitzen, arbeiten wir auch überregional und bundesweit! Gleichzeitig empfehlen wir Schulen auch immer, sich vor Ort Partner zu suchen – Projekte politischer Bildungsarbeit, Beratungsstellen oder Gemeinde, mit denen man in den Austausch gehen kann. Auf unserer Homepage stehen zudem auch viele Materialien für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bereit.

 

Zu den ZEOK-Materialien gehört auch die Wanderausstellung „Muslimisch in Ostdeutschland“. Welche Besonderheit gibt es denn dort?

Menschen muslimischen Glaubens sind in den meisten ostdeutschen Städten und Regionen eine noch stärkere Minderheit als im Westen. Gleichzeitig gibt es in Ostdeutschland mehr Menschen, die Religion im Allgemeinen eher skeptisch gegenüberstehen. Es lohnt also, einen Blick darauf zu werfen, wie Religion allgemein betrachtet wird.

Unsere Ausstellung trägt allerdings den Titel „Muslimisch in Ostdeutschland“, weil sie für diese Region konzipiert ist und wir uns bemüht haben Bilder, Menschen und Orte von vor Ort einzubinden. Es ist doch schön, dann muslimische Menschen und Gemeinden beispielsweise aus Leipzig oder Erfurt zu sehen und nicht nur aus Frankfurt/Main und Berlin/Neukölln.

 

Zur Person: 

Jule Wagner ist am Zentrum für Europäische und Orientalische Kultur (ZEOK e.V.) Ansprechpartnerin für das „Kompetenznetzwerk Islam- und Muslimfeindlichkeit“, dem auch CLAIM (Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit) und die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland angehören.

Der Verein ZEOK hat das Ziel, den Dialog zu fördern und zum gegenseitigen Verständnis beizutragen – u.a. durch politische Bildungsarbeit, für die aus der Sicht von ZEOK den Schulen viel mehr Zeit eingeräumt werden muss.

Jule Wagners Arbeitsschwerpunkte liegen auf den Themen Islam und Schule, Antidiskriminierungspädagogik und transkultureller Bildung.

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