Wenn wir über antimuslimischen Rassismus sprechen, müssen wir uns auch damit befassen, was ausgeklammert wird!

 Auf Initiative des Bundesministeriums des Innern und für Heimat wurde der sogenannte Unabhängige Expertenkreis Muslimfeindlichkeit (kurz: UEM) vor rund drei Jahren eingesetzt, insbesondere auch in Reaktion auf den rassistischen Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020. Neun Expert:innen haben seitdem relevante Studien, Erkenntnisse, aber auch Handlungsstrategien erarbeitet, die sich in einem 400-seitigen Bericht wiederfinden. Dieser wurde in Berlin am 29.06.2023 vorgestellt und verdeutlicht, dass Muslimfeindlichkeit sehr stark in der Breite der Gesellschaft verankert ist und Muslim:innen bzw. auch diejenigen, die als Muslim:innen wahrgenommen werden, in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen keine gleichberechtigte Teilhabe genießen. Im Kontext von Schule drückt sich dies u.a. dadurch aus, dass Diskriminierung gegenüber Muslim:innen von etwa einem Drittel aller Lehrkräfte ausgeht und muslimische Menschen und der Islam in Schulbüchern primär negativ dargestellt werden. Sarah Zendeh vom ZEOK e. V. hat mit Prof. Dr. Karim Fereidooni über antimuslimischen Rassismus im Kontext Schule gesprochen.

Sarah Zendeh (SZ): Herr Fereidooni, welche Erkenntnisse aus dem kürzlich erschienenen UEM-Bericht in Bezug auf das Handlungsfeld Bildung erachten Sie als besonders relevant, mit Blick auf die Arbeit von Lehrkräften sowie auch allgemein für Schulen?

Karim Fereidooni (KF): Als besonders interessanten Punkt möchte ich gerne die Studie zum Thema Schulbücher und Curricula rausgreifen. Insgesamt wurden 761 Schulbücher in den Fächern Geschichte, Politik, Sozialkunde und Geografie sowohl von allgemeinbildenden als auch berufsbildenden Schulen in allen 16 Bundesländern bezüglich der Darstellung von Muslim:innen untersucht. Aus diesen Untersuchungen geht hervor, dass Muslim:innen, wenn sie denn überhaupt in Schulbüchern vorkommen, primär negativ dargestellt werden, beispielsweise im Zusammenhang mit Terror oder mit Herausforderungen für die deutsche Gesellschaft. Zudem haben wir bundesweit 348 Lehrpläne untersuchen lassen und hierbei fällt auf, dass in keinem der untersuchten Lehrpläne auf die Themen Islamfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus verwiesen wird. Wenn wir also über antimuslimischen Rassismus sprechen oder forschen wollen, müssen wir uns auch damit befassen, was ausgeklammert wird. Dies betrifft explizit den Themenbereich antimuslimischer Rassismus. Lehrkräfte und Schüler:innen nehmen Schulbücher nicht als „normale“ Bücher wahr, sondern glauben, dass diese die ultimative Wahrheit beinhalten. Schulbücher durchlaufen einen komplexen Prozess, um überhaupt genehmigt zu werden. Da an diesem Prozess Bundesländer, Schulbuchverlage und Expertengremien beteiligt sind, glauben sowohl Lehrkräfte als auch Schüler:innen, dass sie in diesen Büchern mit der reinen Wahrheit konfrontiert werden. Wenn aber die sogenannte Wahrheit antimuslimische Narrative beinhaltet, dann besteht die Gefahr, dass Lehrkräfte und Schüler:innen diese Inhalte internalisieren und weiterverbreiten. Deshalb ist es besonders wichtig, dass wir aufpassen, was in den Schulbüchern veröffentlicht wird.

SZ: Inwieweit muss sich die Ausbildung und Arbeit der angehenden Lehrkräfte verändern, um eine höhere Sensibilität für antimuslimischen Rassismus zu fördern?

KF: Wir müssen bei der Universitätsausbildung (1. Phase der Lehrer:innenbildung) ansetzen und sowohl diese als auch die Studienseminar-Ausbildung (2. Phase der Lehrer:innenbildung) verändern. Der Themenkomplex Rassismus und im Speziellen antimuslimischer Rassismus muss in die Lehrer:innenausbildung und -fortbildung implementiert werden und die Lehrpläne müssen sich soweit verändern, dass antimuslimischer Rassismus als explizite Erscheinungsform des Rassismus vorkommt. Dazu müssen auch Seminar-Dozierende und die Dozierenden der Universität entsprechend geschult werden und Kompetenzen erwerben, wie sie rassistischem und diskriminierendem Verhalten entgegenwirken können.

Zum anderen ist es notwendig, dass in den Schulbuchverlagen eine Diversifizierung stattfindet, sowohl in der Auswahl der Bilder und Statistiken zum Thema Islam und Muslim:innen, als auch hinsichtlich der Zusammensetzung der Gremien, die über Lehrpläne und Schulbuchinhalte entscheiden, denn diese Gremien sind bislang kein Spiegelbild unserer Gesellschaft und das muss sich ändern.

SZ: Häufig berichten uns Lehrer:innen, dass sie weder Zeit noch Ressourcen haben, um sich noch mit dem Thema Rassismus zu beschäftigen. Sie fühlen sich ohnehin bereits überlastet und überfordert. Welche Maßnahmen bzw. welche Haltungen können dabei helfen, dass Lehrkräfte in einem kontinuierlichen Reflexionsprozess bleiben, um rassistischem Verhalten entgegenzuwirken?

KF: Anschließend an die individuellen Maßnahmen, die ich eben genannt habe, ist es natürlich auch wichtig, über strukturelle Maßnahmen zu sprechen. Aus meiner Sicht ist das derzeitige deutsche Schulsystem nicht darauf ausgelegt, Schüler:innen adäquat zu beschulen und die Gesundheit der Lehrkräfte zu erhalten bzw. zu fördern. Wir verlangen sehr viel von Lehrkräften, ohne ihnen die entsprechenden Ressourcen an die Hand zu geben und wir schmeißen sie in ein System, das gar nicht darauf angelegt ist, langfristig über Ungleichheitsstrukturen nachzudenken. Aus diesem Grund plädiere ich zuerst einmal für strukturelle Reformmaßnahmen. Das bedeutet beispielsweise, dass sowohl die Anzahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden pro Lehrkraft als auch die Anzahl der Schüler:innen pro Klasse auf je 15 reduziert werden müssen. Damit wird ermöglicht, dass sich Lehrkräfte adäquat auf den Unterricht vorbereiten und Fortbildungen besuchen können und dass innerhalb der Klassen kontinuierlich Projektarbeit geleistet und Binnendifferenzierungen vorgenommen werden können. Diese strukturellen Maßnahmen unterstützen Lehrkräfte dabei, menschenverachtenden Aussagen entschlossen entgegenzutreten und sich im Sinne des Grundgesetzes zu positionieren. Der gegenwärtige Status quo in der deutschen Schullandschaft führt hingegen dazu, dass sich Lehrkräfte gestresst fühlen und sie keine Zeit haben, um sich weiterzubilden und eine bestimmte Haltung zu entwickeln. Die Verantwortung sehe ich hier eindeutig in der Politik: Diese muss den UEM-Bericht lesen, den Maßnahmenkatalog durchgehen und entschlossen die von uns entwickelten Lösungsmöglichkeiten umsetzen. Innerhalb dieses Themenkomplexes, egal ob antimuslimischer Rassismus oder Antisemitismus und alle weiteren Diskriminierungsformen, gibt es nämlich kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Handlungs- bzw. Umsetzungsdefizit der Politik. Darin liegt das Problem und dieses muss die Politik beheben. Für den Bildungsbereich heißt das, dass auf einer strukturellen Ebene, im Sinne einer Reform des deutschen Schulwesens, gehandelt werden muss, damit Lehrkräfte und Schüler:innen darin unterstützt werden, Ungleichheitsstrukturen im Unterricht zu thematisieren.

SZ: Wie können Menschen mit Migrationsbiografie für den Lehrer:innenberuf begeistert bzw. als Lehrkräfte ins deutsche Schulsystem eingebunden werden und zwar sowohl Deutsche mit Migrationsgeschichte als auch Lehrkräfte, die aus anderen Ländern nach Deutschland geflüchtet sind?

KF: Hier würde ich erstmal zwischen diesen beiden Gruppen differenzieren. Was Geflüchtete betrifft, die bereits in ihren Heimatländern als Lehrkräfte gearbeitet haben, gibt es aus meiner Sicht zwei Hürden: Zum einen müssen angehende Lehrer:innen in Deutschland in zwei Fächern und Bildungswissenschaft einen Masterabschluss erwerben. In vielen Staaten der Welt reicht der Bachelor aus und Lehrkräfte unterrichten nur ein Fach. Deshalb werden ausländische Berufsabschlüsse oft nicht anerkannt. Die zweite Herausforderung betrifft die Diskriminierung im Kollegium, wenn man Deutsch mit einem Akzent spricht oder grammatikalische Fehler macht. Im Rahmen meiner Doktorarbeit zum Thema Rassismuserfahrungen von Referendar:innen und Lehrkräften habe ich beispielsweise herausgefunden, dass es in Bezug auf Diskriminierungserfahrung nicht egal ist, welcher Akzent gesprochen wird, da es einige Akzente gibt, die negativer wahrgenommen werden (z. B. Türkisch, Arabisch oder Russisch) als andere. Ist hingegen eine Person Englisch Native Speaker, wird sie, auch von Seiten der Schulleitung, positiv wahrgenommen, weil dieser Akzent als „schick“ gilt.

Bezüglich Personen mit internationaler Familiengeschichte, die in Deutschland geboren sind, sehe ich das aus einer anderen Perspektive, da sie einen „deutschen“ Bildungshintergrund haben. Hier geht es aus meiner Sicht um Empowerment und Stärkung der Resilienz in Bezug auf Rassismuserfahrungen im deutschen Schulwesen. Es gibt einige Personen, die das Referendariat abbrechen, weil ihnen suggeriert wird, dass sie nicht dazugehören. Wiederum andere betätigen sich als Change Agents, die selbst Rassismuserfahrungen in Schulen gemacht haben und nun ein positives Vorbild für Schüler:innen sein möchten und sich für die Veränderung von Schulen einsetzen.

SZ: Wenn wir jetzt noch mal den Blick auf die Schüler:innen mit Migrationsbiografie richten: Welche Strukturen bzw. Unterstützung helfen ihnen dabei, um gleichberechtigt im Schulsystem teilhaben zu können?

KF: Es ist sehr wichtig, dass Schüler:innen mit Rassismuserfahrungen nicht alleingelassen werden. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass es an jeder einzelnen Schule etablierte Beschwerdestrukturen gibt und sie die Gewissheit haben, dass eine Beschwerde, beispielsweise bei einer Antidiskriminierungsstelle an der Schule, positive Konsequenzen hat. Eine „Schule ohne Rassismus“-Plakette allein reicht nicht aus, um eine rassismuskritische Schule zu werden. Das heißt, es muss konsequent daran gearbeitet werden, dass diese Plakette auch mit Leben gefüllt wird, beispielsweise in Form von Fortbildungen für Lehrkräfte und anderen Projekten. Es gibt nämlich auch Schulen, die seit Jahren nichts mehr in diesem Bereich machen und trotzdem diese Plakette besitzen. Damit das nicht passiert, müssen regelmäßig Studien durchgeführt und die Maßnahmen der Schule evaluiert werden. Zu einer Schule, die diese Plakette trägt, gehören Beratungsstrukturen, Beschwerdestrukturen und regelmäßige Fortbildungen für Lehrkräfte – diese müssen Rassismuskritik als Professionskompetenz anerkennen. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, guten Unterricht zum Thema Rassismus zu machen und Unterrichtsmaterialien mit einer rassismuskritischen Perspektive zu behandeln. Wenn es um Reformmaßnahmen im Bereich der Rassismuskritik geht, sind für mich die Schüler:innen der wichtigste Motor: Es ist wichtig, ihnen aktiv zuzuhören und die Lehrkräfte sollten eine offene Haltung haben, wenn ihnen Schüler:innen von Rassismuserfahrungen berichten. Denn aufgrund der Notenmacht der Lehrkräfte ist es für Schüler:innen oftmals schwierig, Rassismus anzusprechen. Zudem wird häufig noch angenommen, dass es Rassismus nur bei den extremen Rechten gibt oder er ein Problem der Vergangenheit ist. Das führt dazu, dass Schüler:innen mundtot gemacht werden, da sie mit negativen Konsequenzen rechnen müssten, wenn sie Rassismus ansprechen.

SZ: Gibt es in Deutschland Schulen, die sich auf den Weg gemacht haben, rassismussensibel zu arbeiten und von denen gelernt werden kann?

KF: Es gibt in allen Bundesländern Schulen, die sich auf den Weg gemacht haben, einen rassismuskritischen Organisationsprozess durchzulaufen. Mit Hilfe von externen Partner:innen veranstalten diese Schulen Workshops, Vorträge oder erhalten Beratungsunterstützung, damit sie weiterhin diesen Weg gehen können. Alleine werden diese Schulen es nicht schaffen, diesen Prozess zu bewältigen, deshalb rate ich allen Schulen, externe Kooperationspartner:innen in Anspruch zu nehmen, Workshops zu buchen sowie Vorträge zum Thema Rassismuskritik zu organisieren. Mit dieser Form von Unterstützung können Schulen sowohl individuelle als auch schulspezifische Konzepte entwickeln, die dem Label „Rassismuskritische Schule“ auch tatsächlich Rechnung tragen.

SZ: Herr Fereidooni, vielen Dank für Ihre Expertise und das interessante Gespräch!

Prof. Dr. Karim Fereidooni ist Professor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Rassismuskritik in pädagogischen Institutionen, Schulforschung und Politische Bildung in der Migrationsgesellschaft und Diversitätssensible Lehrer:innenbildung.
Weitere Informationen auf www.sowi.rub.de/sowifd/ und www.karimfereidooni.de/

Das Gespräch führte Sarah Zendeh (ZEOK e.V.) im Rahmen des Kompetenznetzwerks Islam- und Muslimfeindlichkeit (Bundesprogramm Demokratie leben!).

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